16. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte. 50 Jahre Verbändeneugliederung. 50 Jahre FinanzGruppe

16. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte. 50 Jahre Verbändeneugliederung. 50 Jahre FinanzGruppe

Organisatoren
Stiftung GIZ (Genossenschaftshistorisches Informationszentrum) des Bundesverbands der Deutschen Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR)
Veranstaltungsort
Haus des BVR
Förderer
DZ BANK Stiftung
Ort
Berlin
Land
Deutschland
Fand statt
In Präsenz
Vom - Bis
06.10.2022 - 07.10.2022
Von
Peter Gleber, Berlin; Michael Vogelsberger, Berlin

Genossenschaften bilden auch im 21. Jahrhundert einen wichtigen Pfeiler demokratischer Mitwirkung im wirtschaftlichen Leben. Ihre Geschichte, die in ihrer Frühzeit insbesondere mit den Namen Friedrich Wilhelm Raiffeisen und Hermann Schulze-Delitzsch verknüpft ist, ist auch eine Entwicklungsgeschichte demokratischer Selbstorganisation in den sich wandelnden politischen und wirtschaftlichen Gegebenheiten Deutschlands seit dem 19. Jahrhundert. Dabei herrschte nicht immer Einigkeit innerhalb der Genossenschaftsbewegung. So gelang es den aus dem frühen Genossenschaftswesen hervorgehenden genossenschaftlichen Verbänden nur langsam, ihre Gegensätze zu überwinden. Erst 1972 kam es zu einer umfassenden Neustrukturierung, in der durch die Trennung von Geld und Ware eine neue übergreifende Verbandsstruktur geschaffen wurde. Diese umfasste neben dem neugegründeten Bundesverband der Volksbanken und Raiffeisenbanken (BVR) auch den Deutschen Genossenschafts- und Raiffeisenverband (DGRV) sowie die Genossenschaftliche FinanzGruppe. Aus Anlass des 50. Geburtstags der Verbändeneugliederung trafen sich rund 30 Vertreter:innen von genossenschaftlichen Einrichtungen, Hochschulen und Museen. Ziel der Veranstaltung war zum einem die historische Betrachtung der deutschen Genossenschaftsentwicklung in Richtung der Neugliederung von 1972, wobei der Vergleich zu Österreich und Italien gezogen wurde. Zum anderen wurde über Möglichkeiten und Grenzen der Vermittlung genossenschaftlicher Werte in digitaler und analoger Form diskutiert.

Das historische Thema der Tagung umriss MICHAEL STAPPEL (Frankfurt am Main), Volkswirt der DZ BANK: in seinem Vortrag zeichnete er die Entwicklung der deutschen Genossenschaftsverbände von 1861 bis 1971 nach, die schließlich in die Neuordnung der Verbandsstruktur 1972 mündete. Nach Jahrzehnten gegenseitiger Rivalitäten sei es schließlich gelungen, durch die Verbändeneuordnung den genossenschaftsinternen Wettbewerb zu beseitigen und Primärinstitute und Verbände zukunftsfest aufzustellen. Die demokratische Kontrolle zentraler Einheiten wie auch die große Flexibilität und Nachhaltigkeit des Genossenschaftsmodells sind wesentliche Gründe seines anhaltenden Erfolges. Wichtigste Aufgabe sei es nun, das genossenschaftliche Geschäftsmodell unter verschärften regulatorischen Bedingungen in eine digitale Zukunft zu führen. Es folgten Beiträge von CLAUDIA DÖRING (Berlin) und LUDWIG VELTMANN (Berlin), die Stappels Ausführungen aus dem warenwirtschaftlichen Bereich ergänzten und erweiterten. Döring stellte den rasanten kulturellen Wandel der Agrargenossenschaften und ihres Genossenschaftsverbands heraus, während Veltmann betonte, dass die Kernidee des Genossenschaftswesens „ein echter Zukunftsfaktor für den Mittelstand“ sei. Der gewerbliche Mittelstand sei, so Veltmann, ein Garant für eine sinnstiftende, demokratische und freiheitliche Wirtschaftsordnung.

Die Aufgaben des BVR und die genossenschaftliche Kreditwirtschaft der Zukunft umriss RUBEN LANZERATH (Berlin). Er beschrieb das Ziel der Genossenschaftsbanken, ein Ökosystem regionaler Prägung aufzubauen, dabei die bestehenden Kerngeschäftsfelder, so etwa Bauen und Wohnen zu modernisieren, neue Geschäftsfelder, wie zum Beispiel Gesundheit und Pflege zu erschließen und dabei geeignete Kooperationen in den Regionen einzugehen. Auch in Zukunft sind starke, dezentrale und unabhängige Genossenschaftsbanken notwendig, so Lanzerath. Starke Kreditgenossenschaften sind heute gerade in Krisenzeiten wichtige Stützen für die Wirtschaft und das Sozialgefüge vor Ort, so THOMAS HORN (Gießen). Schon vor fünfzig Jahren profitierten die Volksbanken und Raiffeisenbanken von der Verbändeneugliederung. Am Beispiel der Volksbank Mittelhessen zeichnete Horn die Entwicklung der Primärinstitute nach. Sie hatten fortan die Chance Kräfte zu bündeln und sich zu regionalen Playern zu entwickeln.

Dezentrale Genossenschaften sind ein Spiegelbild unserer deutschen Geschichte, aus der unterschiedliche und starke Regionen hervorgegangen sind. Diese Dezentralität zeigte sich auch bei der Verbändeneugliederung. So legte SILVIA GALLOWSKY (München) dar, wie diese im Freistaat erst 17 Jahre später umgesetzt wurde – mit großem Widerwillen. Im Nachbarland Österreich arbeiten gewerbliche und ländliche Genossenschaften bis heute in getrennten Organisationen - die kulturelle Verwandtschaft zu Deutschland ist allerdings unverkennbar. Wie JUSTUS REICHL (Wien) betonte, haben die Raiffeisenorganisationen eine historisch gewachsene starke Stellung in der Alpenrepublik. Diese Stellung bringe jedoch die Gefahr einer gewissen Nachlässigkeit mit sich. Umso mehr müsse ein stärkerer Fokus auf genossenschaftliche Neugründungen gelegt werden, so Reichl. OSCAR KIESSWETTER (Bozen) wiederum zeichnete die Entwicklung der italienischen Genossenschaften nach, deren Geschichte bis in die Zeit vor der italienischen Einigung zurückreicht und die insbesondere in der sozialen Fürsorge bis heute eine wichtige Rolle einnehmen. Ihm zufolge begünstigten der im Königreich Italien bestehende Gegensatz zwischen Staat und Kirche sowie die Entwicklung der Arbeiterbewegung die Entstehung eines politisch zersplitterten Genossenschaftswesens. Diese Zersplitterung habe sich lange erhalten und erst in jüngerer Zeit sei es den italienischen Verbänden gelungen, gemeinsame Strukturen zu schaffen.

In Deutschland gelang dies bereits 1972 mit der Gründung des Deutschen Genossenschaft- und Raiffeisenverbands (DGRV), dessen Aufgaben und Entwicklung ANDREAS WIEG (Berlin) nachzeichnete. Damit vereinigten sich nach über 100 Jahren Eigenständigkeit die wichtigsten deutschen Genossenschaftsorganisationen. Wenig bekannt ist jedoch die Vorgeschichte dieses Einigungsprojekts. Denn tatsächlich wurde vor 50 Jahren nicht zum ersten Mal über eine Zusammenlegung der genossenschaftlichen Spitzenverbände diskutiert. So referierte HOLGER MARTENS (Hamburg) über den „Reichsverband für das Deutsche Genossenschaftswesen“, ein von ehrgeizigen NS-Karrieristen vorangetriebenes, letztendlich gescheitertes Einheitsprojekt aus der Zeit des Nationalsozialismus. Erst Jahrzehnte später sollte das Ringen der gewerblichen und ländlichen Genossenschaften um Einheit von Erfolg gekrönt sein, diesmal in Freiheit und Selbstbestimmung. Doch hat der Nationalsozialismus zweifellos traurige Spuren im deutschen Genossenschaftswesen hinterlassen. Darüber berichtete MAX MARTENS (Hamburg), der das Projekt der Stolpersteine für Genossenschaftler vorstellte. Dieses Projekt der Historiker-Genossenschaft eG, der Holger und Max Martens angehören, setzt sich zum Ziel, der in der Zeit des Nationalsozialismus verfolgten Genossenschaftsmitglieder durch in Gehwege eingelassene Messingtafeln zu gedenken. Dabei ergänzte Martens, dass auch Widerstandskämpfer geehrt werden, die die NS-Zeit überlebt haben.

Das zweite Hauptthema der Tagung umriss CHANTAL ESCHENFELDER (Frankfurt am Main) vom Städel Museum. Mit ihrem Vortrag zur digitalen Erweiterung von Museen legte sie die Basis zur didaktischen Ausrichtung der Tagung: Wie vermittelt man erfolgreich Wissen an die breite Öffentlichkeit? Vor dem Hintergrund einer zunehmenden Diversifizierung des Publikums sehen sich Museen zunehmend genötigt, ihr Angebot zu erweitern und individuellen Besuchsanlässen anzupassen. Ein digitales Angebot ist unerlässlich, auch weil für zukünftige Generationen der klassische Museumsbesuch immer weniger selbstverständlich sei. Dennoch, so Eschenfelder, könne ein Ausstellungsbesuch nicht virtuell nachgeahmt werden. Stattdessen gelte es, digitale Methoden im Sinne eines erweiterten Informationsangebotes zu nutzen. So könne etwa ein individuelles Ausstellungsstück mit einer Vielzahl von Informationen verknüpft und auch die in Depots gelagerten Sammlungen den Besucher:innen zugänglich gemacht werden.

Daraus ergab sich die Frage, wie digitale Methoden in der Genossenschaftsgeschichte nutzbar gemacht werden können. LARS ERIK BRANDT (Berlin) stellte am Beispiel des GenoFinder, der Datenbank und Suchmaschine des GIZ, einige Überlegungen über eine mögliche digitale Darstellung der Genossenschaftsgeschichte an. Die Fortschritte der Digital Humanities ermöglichen einen wesentlich umfangreicheren und vernetzteren Zugang zu historischen Daten, als es noch vor wenigen Jahren möglich war. Auch in der Genossenschaftsgeschichte gelte es, die sich daraus ergebenden Potentiale zu nutzen und die Vielzahl an Gegenständen und Textbeständen mit genossenschaftlichem Bezug digital zu bündeln und allgemein zugänglich zu machen. Für besonders relevante Exponate biete sich zudem die Möglichkeit eines digitalen Museums an. Darauf aufbauend präsentierte SONJA NEUSCHWANDER (Berlin) ihr Konzept eines solchen digitalen Museums für Genossenschaften. Quasi als analoges Gegenstück hierzu fungierte das von JAN VAN DER MEER (Utrecht) vorgestellte Rabo Museum. Dieses im Hauptgebäude der niederländischen Rabobank in Utrecht angesiedelte Museum setzt es sich zum Ziel, anhand einer Vielzahl von Ausstellungsstücken aus verschiedenen Epochen den Besucher:innen Werte und Zielsetzungen von Genossenschaften näherzubringen

Auf die bisherigen Beiträge bezugnehmend diskutierten die Teilnehmer im Forum Genossenschaftsgeschichte Online mit Silvia Gallowsky, Thomas Keiderling und Jan van der Meer über digitale Ausstellungsstrategien. Gallowsky organisiert in Bayern Wanderausstellungen, Keiderling ist Leitender Kurator des Schulze-Delitzsch-Hauses in Delitzsch. Dabei war eine gewisse Neigung zur fortgesetzten Nutzung analoger Formate zu erkennen. So wurden Ausstellungsformate in Bankfilialen, Freilichtmuseen oder sogar in Einkaufszentren in Erwägung gezogen.

Doch bei aller Freude über die Rückkehr zum Analogen nach Corona ist es notwendig sich uns vergegenwärtigen, dass sich die Welt gerade in riesigen Schritten verändert. Nicht nur sind Bankkunden heute weniger in der Filiale bzw. häufiger im Internet unterwegs, auch bedienen sich nicht junge Menschen digitaler Mittel in verschiedenen Bereichen, sodass es gilt, die Weichen für ein digitales genossenschaftliches Geschichtsangebot zu stellen. Auf der 16. Tagung zur Genossenschaftsgeschichte wurden, von einer historischen Rückschau ausgehend, einige der sich aus der Digitalisierung ergebenden Herausforderungen und Möglichkeiten diskutiert. Genossenschaftliche Werten erweisen sich in einer modernen Wirtschaft keineswegs als Auslaufmodell. Es gilt jedoch, sie einem breiten Publikum in modernem Gewand zugänglich zu machen

„Miteinander geht es besser“ – unter diesem Titel lud die Heinrich-Kaufmann-Stiftung 2006 zur ersten genossenschaftshistorischen Tagung nach Hamburg ein. Das Format vereinte von Anfang an Mitarbeiter und Vorstände von Genossenschaften und Spitzenorganisationen gleichermaßen mit Zeitzeugen und Wissenschaftlern verschiedener Disziplinen und Regionen, nicht nur aus Europa, auch aus Kanada oder Brasilien. Dabei gab es viele eindrückliche Momente, etwa wenn, wie 2015 beim BVR in Berlin, Zeitzeugen über ihre Erlebnisse zur Zeit der Wiedervereinigung der Kreditgenossenschaften nach der Deutschen Einheit berichteten. Die genossenschaftshistorischen Tagungen haben sich als geeignetes Forum erwiesen, um Mitglieder verschiedener genossenschaftlicher Einrichtungen zusammenzubringen und es ihnen zu ermöglichen, Erfahrungen und Zukunftsvorstellungen auszutauschen. Die nächste Tagung findet 2023 in Hamburg statt.

Konferenzübersicht:

Peter Gleber (Berlin): Begrüßung

Michael Stappel (Frankfurt am Main): Neuordnung der Genossenschaftsverbände in Deutschland 1971/1972

Chantal Eschenfelder (Frankfurt am Main): Die Digitale Erweiterung von Museen. Strategie – Umsetzung – Learnings

Max Martens (Hamburg): Stolpersteine für Genossenschaftler – eine Aktion der Historikergenossenschaft

Ludwig Veltmann (Berlin): Die Genossenschaftsidee für den Mittelstand

Claudia Döring (Berlin): Der Deutsche Raiffeisenverband – und täglich grüßt der Wandel

Ruben Lanzerath (Berlin): Der BVR als strategisches Kompetenzzentrum

Silvia Gallowsky (München): Der lange Weg zur Einheit der Regionalverbände in Bayern

Justus Reichl (Wien): Genossenschaften und ihre Verbände in Österreich

Peter Gleber (Berlin): Geno-Finder 2.0 – von der Wissenschaft zum Infotainment

Lars Erik Brandt (Berlin): Geno-Finder als Einstieg in eine digitale Genossenschaftsgeschichte

Sonja Neuschwander (Berlin): Ein digitales Museumskonzept für Genossenschaften

Jan van der Meer (Utrecht): Das Rabo Museum – ein kreditgenossenschaftlicher Ausstellungsort

Forum – Genossenschaftsgeschichte online

Andreas Wieg (Berlin): Die branchenübergreifenden Aufgaben des DGRV

Oscar Kiesswetter (Bozen): Genossenschaftsverbände in Italien – Überwindung ideologischer Gegensätze

Holger Martens (Hamburg): Der Reichsverband für das Deutsche Genossenschaftswesen – eine nationalsozialistische Idee

Thomas Horn (Gießen): Neugliederung vor Ort – die Volksbank Mittelhessen

Redaktion
Veröffentlicht am
Autor(en)
Beiträger
Klassifikation
Region(en)
Weitere Informationen
Land Veranstaltung
Sprache(n) der Konferenz
Deutsch
Sprache des Berichts